13. September 2017
Vor 25 Jahren: Ein Tor für die Ewigkeit
„Wer ist der König im Revier – Nur der RWE“ …ging nach 90 Minuten Pokalfight gegen Schalke 04 der Wechselgesang zwischen den rot-weissen Fantribünen durch das Georg-Melches-Stadion. Die Schalke-Anhänger, aus deren Block zu Beginn des Spiels die Antwort auf die Frage mit deutlich höherem Reimanteil ertönt war, hatten zu diesem Zeitpunkt das Stadion schon fluchtartig verlassen.
„2:0 – ich war dabei“ -T-Shirts erinnerten so manchen RWE-Fan noch lange an den 13. September 1992, als die Mannschaft von Jürgen Röber den Revierrivalen im DFB-Pokal bezwang. Im Hexenkessel an der Hafenstraße hatten 25.000 Zuschauer ein Spiel erlebt, das laut WAZ „in die RWE-Geschichte eingeht.“
Es war das Spiel des Jahres 1992, 15 Monate nachdem sich durch den Zwangsabstieg der Essener aus der 2. Liga und dem zeitgleichen Bundesliga-Aufstieg der Nachbarstädter die Wege der beiden Traditionsklubs getrennt hatten. Jürgen Röber sah den amtierenden Deutschen Amateurmeister RWE zwar in der Außenseiterrolle, aber nicht chancenlos. Schließlich hatten die Essener eine Mannschaft mit Zweitliga-Format und zuletzt in der Meisterschaft vier Siege in Serie geholt.
Schalkes Trainer Udo Lattek hatte dementsprechenden Respekt vor RWE, ließ die Essener von seinem Assistenten beobachten und ging mit seiner Mannschaft einen Tag vor dem Spiel sogar ins Trainingslager. Die Rot-Weissen trafen sich dagegen wie gewohnt vor dem Spiel in der Kabine und wurden von Trainer Jürgen Röber heiß gemacht. „Ich habe den Spielern gesagt, dass wir mithalten können, wenn wir über den Kampf und die Aggressivität kommen.“
Rot-Weiss Essen legte in der ersten Halbzeit los wie die Feuerwehr und gewann fast alle Zweikämpfe. Die Zuschauer trauten ihren Augen nicht. Es stürmte nur eine Mannschaft – RWE. Schalkes millionenschwerer Sturm mit Bent Christensen und Radmilo Mihajlovic war bei Essens Manndeckern Ingo Pickenäcker und Roman Geschlecht abgemeldet. Kapitän Frank Kontny spielte als Libero vor der Abwehr, Jürgen Margref trieb das Spiel über die rechte Seite an und Spielmacher Predag Crnogai zog im Mittelfeld die Fäden. Drei Chancen hatte RWE in der ersten Viertelstunde, war spielerisch und kämpferisch klar überlegen. In der 26. Minute wurde die engagierte Leistung belohnt. Pedrag Crnogaj schnappte sich knapp 20 Meter vor dem Schalker Tor den Ball und ließ Torhüter Jens Lehmann mit einem fulminanten Linksschuss keine Chance.
Ein Tor für die Ewigkeit
Eine Stunde lang spielte der Deutsche Amateurmeister den Bundesligisten an die Wand. Erst in der 68. Minute hatten die Schalker durch Ingo Anderbrügge ihre erste Torchance und setzten danach die müder werdenden Essener in der Schlussphase gehörig unter Druck – vergeblich. Mit einem kuriosen Tor machte Jörg Lipinski in der 88. Minute alles klar. Schalke hatte in einem letzten verzweifelten Anrennen die Abwehr aufgelöst und auch Torhüter Jens Lehmann war bis zur Mittellinie aufgerückt. Nach einem Eckball wollte sich Essens Hintermannschaft mit einem weiten Abwehrschlag nach vorne Luft verschaffen. Jens Lehmann versuchte den Ball in Höhe der Mittellinie zu stoppen, doch das Leder sprang dem Schalker Schlussmann dabei zu weit weg. Jörg Lipinski erkannte die Situation, erlief sich den Ball und zog alleine auf das Schalker Tor zu. Kurz vor der Torlinie stoppte er, wartete ewig lange Sekunden und schob dann die Kugel zum 2:0 Sieg ein. Der damalige Vorsitzende Wolfgang Arnold erinnert sich noch heute an die Szene. „Ich habe dem Lipinski genau angesehen, wie er in tausender Schritten die ausgelobte Siegprämie runtergezählt hat.“ Der Torschütze selbst hatte nach einiger Aussage nur die taktische Anweisung Jürgen Röbers umgesetzt: „Der Trainer hat gesagt, wir sollen auf Zeit spielen, wenn wir 1:0 führen. Ich war mir in der Situation so sicher, da konnte ich auf Zeit spielen.“
Essen im Freudentaumel
Das Georg-Melches-Stadion glich anschließend einem Tollhaus. Udo Lattek sagte in der ARD-Sportschau: „Das war die bitterste Niederlage in meiner ganzen Trainerlaufbahn“, erkannte die Leistung der Essener aber an: „Ein verdienter Sieg. Ich hatte in der ersten Halbzeit den Eindruck, dass Essen der Bundesligist und Schalke der Oberligist war.“ Jürgen Röber ergänzte: „Nur wer hier im Revier wohnt und die Rivalität zwischen beiden Klubs kennt, der weiß, wie gut dieser Sieg dem Verein und Essen tut.“ Fußball-Essen war im kollektiven Freudentaumel. Und die WAZ zog das Fazit: „Ein prächtiges Fußballfest an der Hafenstraße, von dem man noch lange, vielleicht sogar eine Generation (weil es eben Schalke war), in Essen spricht. Dieser Sieg der Rot-Weißen tut ganz Essen gut.“
Es war bis heute tatsächlich das letzte Pflichtspiel der beiden Lizenzmannschaften gegeneinander.
Schalkes Trainer Udo Lattek brauchte einige Zeit, bis er die Niederlage verdaut hatte. „Ich hatte nach dem Spiel so die Schnauze voll, dass ich meine Mannschaft bis gestern ignoriert habe“, bekannte er eine halbe Woche nach dem Pokaldesaster. Seine immer noch vorhandene Enttäuschung verglich der Meistertrainer sogar mit der 1:2 Pokalniederlage, die er mit Bayern München im Europapokalfinale der Landesmeister 1987 (heutige Champions League) gegen den FC Porto erlitten hatte. „Damals war ich ähnlich geladen.“
Text: Georg Schrepper