10. August 2023

Von Bielefeld nach Kiel

Vor dem HSV-Duell: Rückblick auf eine verrückte DFB-Pokalsaison 2019/20.

Von Bielefeld nach Kiel – Rot-Weiss Essen
Unwirklicher Moment: Die RWE-Kicker bejubeln den 2:1-Sieg gegen Bayer Leverkusen und damit ihren Viertelfinal-Einzug. (Fotos: Endberg)

Es ist 20.48 Uhr am 02. Februar 2021. Rot-Weiss Essen hat sich vor Minuten nach aufopferndem Kampf im Stadion an der Hafenstraße den Rückstand durch Leon Bailey und Bundesligist Bayer Leverkusen im DFB-Pokal Achtelfinale einschenken lassen. Der strömende Regen bricht Flutlichtstrahlen. Als Harenbrock in Minute 108 den Ball von Rechtsaußen mit Wucht zum zentral platzierten Platzek schiebt, hört sich das schlammige Geräusch im Corona-leeren Stadion fast so an, als würde Schleifpapier über Stahl reiben – so rau und weichgespielt ist das Spielfeld. Platzek setzt zur Drehung an, umkurvt Tapsoba und probiert es mit Wumms aus 15 Metern – Hradecky wehrt ab! Und dann liegt das Ding Kefkir vor den Knochen. Die rot-weisse Nummer 38, weit entfernt von Gegenspieler Fosuh-Mensa, fackelt nicht lang und schiebt beherzt ein. 1:1 – und die Bühne für ein Spektakel, was vermutlich noch Jahrzehnte später in RWE-Geschichtsbücher gedruckt wird, ist geebnet. Später trifft Engelmann zum 2:1 – und die Sensation ist perfekt. Rot-Weiss schmeißt Leverkusen raus, der Viertligist einen Titelanwärter. Damit beißt der Underdog schon zum dritten Mal in der Saison 2020/21 zu, das Pokaljahr ist besonders. Ein Rückblick!

Als sich die Werbeexperten rundum Rot-Weiss Essen im Spätsommer 2020 den Spruch „Von Bielfeld nach Berlin“ für die Sieger-Shirts im Niederrheinpokal ausdachten, da war nicht einmal klar, ob der das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde. Immerhin musste erst ein Final-Erfolg gegen Willi-Lippens-Klub 1. FC Kleve her. Zwar ein unterklassiger Oberligist – aber der Pokal schreibt seine eigenen Gesetze! Nicht verstreichen lassen wollten die Marketer rundum RWE diese augenzwinkernde Gelegenheit, die ein von Corona durchgewürfelter Spielplan eröffnete: Schon vor der Niederrhein-Endspiel-Paarung am 22. August im Stadion an der Hafenstraße war klar, dass auf den Sieger ein NRW-Duell warten würde. Der damalige Bundesliga-Aufsteiger und jetzige Drittliga-Konkurrent Arminia Bielefeld versprach ein ordentliches Erstrunden-Match.

Dank Engelmann-Hattricks reckten die Rot-Weissen beim 3:1 gegen Kleve schließlich wirklich die Trophäe in die Höhe. Und so kam es drei Wochen später, nach verkorkstem Saisonstart mit Remis gegen Wiedenbrück, zum Kräftemessen mit dem Erstligisten. Ein aufregender Montag für die Rot-Weissen, die erstmals seit 2017 wieder Teil einer DFB-Pokal-Runde waren – auch weil Vorstandsvorsitzender Uhlig auf eine Arminia-Vergangenheit zurückblickt. Und noch aufregender wird er um 19.01 Uhr Essener Ortszeit: Engelmann, der später zum „Man of the Match“ werden soll, läutet die erste kleine Pokal-Sensation ein und schießt Rot-Weiss Essen mit dem einzigen Tor der Partie in die 2. Runde.

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Einen Tag vor Weihnachten tritt so Fortuna Düsseldorf den unweiten Weg an die Hafenstraße an. Uhlig rechnet vor der Partie die Chancen aus: „Von zehn Spielen gewinnt Düsseldorf neunmal“. Am 23. Dezember lässt die Saison 2020/21 RWE schließlich die eine Ausnahme erleben! In einem dynamischen Kopf-an-Kopf geht es – wieder vor leeren Rängen, so der allergrößte Wehrmutstropfen dieses Pokaljahres – drunter und drüber. Wieder eröffnet Engelmann das Torfest, dann gleicht Henning auss. Nur Minuten später schmeißt sich Kehl-Gomez in einen Kopfball und stellt im Flug die Führung her, dann baut Kefkir auf 3:1 aus, bevor Hennings mit einem Elfmeter die Schlussminuten spannender als nötig macht. 23. Dezember 2020, 20.22 Uhr – und die frühzeitige Festtags-Überraschung ist perfekt. „Wir sind mächtig stolz“, kommentiert der damalige Trainer Neidhart. „Es ist das schönste Geschenk, das wir unter den Weihnachtsbaum legen konnten“, findet Kehl-Gomez nach dem 3:2.

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Und so kommt es am 02. Februar 2021 zum Duell mit Bayer Leverkusen. Ein UEFA-League-Teilnehmer mit Riesen-Talenten in den eigenen Reihen: Kicker wie Florian Wirtz und Moussa Diaby versprechen attraktiven Fußball. Weil Nationalspieler Jonathan Tah rotgesperrt fehlt, müssen es die Routiniers Lukas Hradecky und Charles Aranguiz richten. Als Viertligist gegen so einen Gegner gewinnen ist fast illusorisch – findet auch eine große Boulevardzeitung, die RWE vorab als „Freilos“ abstempelt. Selbst Neidhart bezeichnet die Partie als „Bonus-Spiel“, „zwischen uns liegen Welten“, findet der Fußball-Lehrer. Und doch gelingt Rot-Weiss die Sensation! Selbst Übersee berichten die Medien über den Deutschen Meister von 1955, der in der Verlängerung die Partie gegen einen europäischen Top-Klub dreht und mit 2:1 siegt. Märchen, die der Fußball schreibt!

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Da scheint Zweitligist Holstein Kiel im Viertelfinale fast schon machbar. „Wir dürfen nicht den Fehler machen, dass die Erwartungshaltung umkippt und man uns jetzt für favorisiert hält“, mahnt Uhlig gar nach der Auslosung. Mit den Machverhältnissen hat der Vorstandsvorsitzende schließlich recht: Im vierten Anlauf an der Hafenstraße behält der haushohe Favorit die Oberhand, am 03. März 2021 endet der Essener Pokalweg nach einem 0:3 gegen Holstein – wobei der damalige „Störche“-Trainer Werner zugibt, dass das „Ergebnis klarer, als der Spielverlauf war.“ Knackpunkt der Partie: Eine umstrittene Elfmetersituation, die zur Kieler Führung führte! Grote grätscht, Porath geht zu Fall – doch ob es einen klaren Kontakt gibt, ist nur schwer nachzuvollziehen. „Er macht es clever und knickt vorher schon ein. Ich hätte ihn nicht gegeben“, befindet Neidhart.

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Und so wäre am Ende der T-Shirt-Spruch „Von Bielefeld über Düsseldorf und Leverkusen nach Kiel“ zumindest der faktisch korrekte gewesen. Weil der eine oder andere verschmitzte aber in diesen Tagen nach dem Leverkusen-Sieg nicht mehr vollständig, sondern nur noch teils absurde Fan-Traum aber doch ins Berliner Olympiastadion führte, war die Botschaft „Von Bielefeld nach Berlin“ vielleicht doch die haargenau richtige für das Pokaljahr 2020/21.

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