4. Juni 2014

„Gemeinschaftlich großen Ehrgeiz entwickeln“

Seit knapp vier Monaten ist Dr. Uwe Harttgen bei RWE als Vorstand Sport tätig. Während sein Kollege Dr. Michael Welling die Bereiche Marketing und Finanzen verantwortet, „beackert“ der 49-Jährige den gesamten sportlichen Bereich. Trotz seiner typisch hanseatischen Ruhe und Gelassenheit schreckt der erfahrene Ex-Profi dabei auch vor einschneidenden Entscheidungen im sportlichen Bereich nicht zurück, hat bereits wichtige Pflöcke für die rot-weisse Zukunft eingeschlagen. Zum Saisonabschluss nimmt unser Vorstand Sport zu aktuellen Themen rund um die Hafenstraße ausführlich Stellung.

Hallo Herr Dr. Harttgen! Sie sind bei RWE seit vier Monaten als neuer Vorstand Sport im Amt. Trotzdem ist offenbar bei einigen Fans der Eindruck entstanden, Sie hätten bereits den kompletten Verein umgekrempelt. Was antworten Sie?

Ich glaube den kompletten Verein umzukrempeln ist unmöglich und wäre auch nicht wünschenswert. Als ich nach Essen kam, herrschte im gesamten Verein eine große Unzufriedenheit. Das galt für die Fans, aber auch für die Mannschaft, das Trainerteam und alle Verantwortlichen. Ich war dagegen noch unbefangen, wollte erst einmal ankommen und mir einen Überblick verschaffen. Es ging darum, die Situation zu analysieren und dann die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Ganz bewusst wollte ich mich nicht leiten lassen, sondern mir selbst in Ruhe ein Urteil bilden. Allerdings musste ich mich dann sehr schnell mit dem Thema auseinandersetzen, wie wir die unbefriedigende sportliche Lage möglichst kurzfristig verbessern können.

Eine Ihrer ersten Maßnahmen war dann auch die Einstellung des neuen Trainers Marc Fascher als Nachfolger von Waldemar Wrobel, die zumindest vom Zeitpunkt her ein wenig überraschend kam!

Zunächst einmal habe ich die sportliche Situation über zwei Monate analysiert und bin erst dann gemeinsam mit Dr. Michael Welling und dem Aufsichtsrat zu der Auffassung gelangt, etwas verändern zu müssen. Es mussten neue Impulse her, um in der Saison noch bestmöglich abschneiden zu können. Marc Fascher bringt Aufstiegserfahrung mit, ist positiv emotional und fußballverrückt. Damit passt er sehr gut zu RWE. Im Hinblick auf den Zeitpunkt war es wichtig, ihm die nötige Zeit zu geben, bereits mit der Mannschaft arbeiten und so viel besser entscheiden zu können, mit welchen Spielern wir die Zukunft planen und mit welchen nicht. Jeder Einzelne hatte so die Chance, sich zu empfehlen und aufzudrängen.

Zu den Ergebnissen der sportlichen Analyse gehören die Vertragsverlängerungen mit Max Dombrowka, Konstantin Fring und Lucas Arenz. Auf der anderen Seite wird aber auch eine Reihe verdienter Spieler den Verein nach dem heutigen Saisonabschluss gegen die Sportfreunde Siegen verlassen. Wird damit ein notwendiger Umbruch eingeleitet?

Niemand wird vergessen, was Spieler wie unter anderem Holger Lemke, Benedikt Koep oder Markus Heppke in den vergangenen Jahren für RWE geleistet haben. Keiner, der heute verabschiedet wird, hat sich etwas zu Schulden kommen lassen. Ganz im Gegenteil! Marc Fascher und ich mussten aber entscheiden, wer unserer Mannschaft in Zukunft noch helfen kann, den nächsten Schritt zu machen. In diesem Zusammenhang gebietet es die Fairness, gegenüber den Spielern ehrlich zu sein und in diesen Fällen einen für alle Beteiligten sauberen Schlussstrich zu ziehen.

Sie haben auch einigen Spielern, die noch über das Saisonende hinaus vertraglich an den Verein gebunden sind, inzwischen mitgeteilt, dass sie in den sportlichen Planungen für die neue Spielzeit keine entscheidende Rolle mehr spielen werden!

Das stimmt. Wir gehen auch in diesen Fällen sehr offen damit um und sind mit den Spielern im Gespräch, um möglichst gute Lösungen zu finden. Es ist doch nicht so, dass hier nur vom Verein die Initiative ausgeht. Auch die Spieler sind unzufrieden mit ihrer Situation, ihre Ansprüche decken sich nicht mit der Wirklichkeit. Ich hoffe, wir können schon bald Ergebnisse unserer Gespräche präsentieren.

Mit Marwin Studtrucker, Daniel Grebe, Richard Weber, Sven Kreyer und Tobias Steffen konnten Sie schon einige vielversprechende Neuzugänge an die Hafenstraße holen. Welche Kriterien sind Ihnen bei der Auswahl der neuen Spieler besonders wichtig?

Durch Verstärkungen für alle Mannschaftsteile wollen Marc Fascher und ich die Konkurrenzsituation innerhalb des Kaders deutlich erhöhen. Auch die Spieler, die nicht gleich unter den ersten Elf sind, sollen ganz nah an der Stammformation dran sein, um Druck auszuüben. Wir wollen Spieler für RWE begeistern, denen wir zutrauen, sich auch höherklassig durchsetzen zu können. Sie sollen merken, dass sich in Essen etwas bewegt, und sie müssen selbst etwas bewegen wollen. Es geht auch darum, eine andere Mentalität in die Mannschaft zu bringen. Wir wollen keine Wohlfühl-Oase, sondern gemeinschaftlich großen Ehrgeiz entwickeln. Mit dem aktuellen Stand der Kaderplanung bin ich zufrieden. Bis zum Transferschluss am 31. August kann aber noch einiges passieren.

Der Etat für die erste Mannschaft wurde zumindest leicht angehoben. Können Sie Befürchtungen zerstreuen, RWE könne sich eventuell übernehmen?

Wir tun alles, um die Qualität im Kader, aber auch im direkten Umfeld der Mannschaft zu erhöhen. So würde ich es beispielsweise gerne sehen, wenn wir uns eines Tages auch einen hauptamtlichen Physiotherapeuten leisten könnten, der praktisch rund um die Uhr zur Verfügung steht. Auch in den Bereichen Scouting oder psychologischer Betreuung könnte ich mir gut Verbesserungen vorstellen. So weit sind wir aber noch nicht. Auf jeden Fall sind wir weit davon entfernt, ein finanzielles Risiko einzugehen, sondern befinden uns vielmehr sogar auf einem guten Weg, den Etat der Vorsaison einzuhalten. Den Weg der seriösen und nachhaltigen Aufbauarbeit wird RWE definitiv nicht verlassen.

Dass Sie nach dem Trainerwechsel davon gesprochen haben, in den nächsten beiden Jahren einen Platz unter den ersten fünf Vereinen anzustreben, hat bei einigen Fans nicht gerade Begeisterung ausgelöst!

Ich bleibe trotzdem dabei, dass es sich dabei um eine realistische Einschätzung handelt. Das heißt doch nicht, dass wir zufrieden wären, wenn wir zweimal Fünfter werden. Auch wir wollen am liebsten sofort aufsteigen. Zunächst einmal geht es aber darum, den Abstand nach oben deutlich zu reduzieren und möglichst immer an den Spitzenplätzen zu schnuppern. Wenn das gelingt, hätten wir schon einiges erreicht. RWE wird oft als Bayern München der Regionalliga West wahrgenommen, trotzdem gibt es einige Mitbewerber mit besseren finanziellen Möglichkeiten. Das darf niemand vergessen. Hinzu kommt die Problematik mit der Aufstiegsregelung, die wir nicht einfach wegzaubern können. Wir haben uns aber fest vorgenommen, zusammen mit anderen betroffenen Vereinen aus den fünf Regionalligen aktiv Änderungen anzuregen. Der aktuelle Modus ist aus sportlicher, aber auch aus wirtschaftlicher Sicht mehr als unglücklich.

Für große Diskussionen sorgte die Abschaffung der U23. Möglichst kurz zusammengefasst: Warum sehen Sie darin große Vorteile für die Nachwuchsförderung?

Die Abmeldung der U23 geht einher mit einer inhaltlichen und strategischen Neuausrichtung des Nachwuchsleistungszentrums. Wir wollen unsere Talente aus der U17 und U19 beispielsweise durch gezieltes Fördertraining und Förderspiele gegen attraktive Gegner noch individueller betreuen und für eine enge Verzahnung mit der ersten Mannschaft sorgen. Für diese Jungs ist die Aussicht, den Sprung in den Regionalliga-Kader schaffen zu können doch wesentlich attraktiver als die Aussicht, in der Oberliga zu spielen. Wer vielleicht als U19-Spieler noch nicht ganz so weit ist, erhält darüber hinaus die Möglichkeit, sich bei unserem Kooperationsverein zu entwickeln. Ich bin sicher, von diesem Konzept werden letztlich alle Beteiligten profitieren.

Gefährdet der Abstieg der U19 nicht die Attraktivität der Nachwuchsausbildung?

Grundsätzlich ist es selbstverständlich unser Ziel, mit der U19 ebenso wie mit der U17 in der Junioren-Bundesliga und damit in der höchstmöglichen Liga zu spielen. Auf der anderen Seite sind unsere jungen Talente aber doch nicht plötzlich alle schlechter, nur weil sie in der Niederrheinliga spielen. Entscheidend ist immer die persönliche und sportliche Entwicklung der Spieler sowie die Anbindung an die erste Mannschaft. Für die Jungs in diesem Alter zählt schließlich der Seniorenbereich und dahingehend bieten wir durch die enge Verzahnung zwischen U17, U19 und 1. Mannschaft eine Perspektive.