12. November 2020

Spitzenreiter, Spitzenreiter

Willi Lippens bei einer Begrüßung zur Platzwahl mit Bayern-Kapitän Franz Beckenbauer, für den er nach dem Spiel in München tröstende Worte hatte.
Willi Lippens bei einer Begrüßung zur Platzwahl mit Bayern-Kapitän Franz Beckenbauer, für den er nach dem Spiel in München tröstende Worte hatte.

Vor 50 Jahren war RWE Tabellenführer der Fußballbundesliga.

In der letzten Saison startete in der kurzen fuffzehn die Serie „Rot-Weisse Bundesligazeiten“. In drei Folgen ist dabei auf die erste Bundesligasaison 1966/67, die Aufstiegsrunden zur Fußballbundesliga sowie die zweite Bundesligaära von 1969-71 geschaut worden. Diese Serie wird nun in den kommenden Ausgaben fortgesetzt.

„Deutscher Meister ist nur der RWE“ – 15 Jahre war es her, dass Rot-Weiss Essen am 26. Juni 1955 in Hannover gegen den 1. FC Kaiserslautern mit 4:3 die deutsche Meisterschaft gewonnen hatte. Im Spätsommer 1970 träumte so mancher Rot-Weisse für einige Wochen von einer Wiederholung dieses Triumphs.

Die Bundesligasaison 1970/71 begann mit einem Paukenschlag. Am 1. Spieltag gelang im Heimspiel gegen Hannover 96 durch Tore von Walter Hohnhausen und Willi Lippens in der Schlussphase ein 2:0-Erfolg. Der Lohn für den Auftaktsieg war Platz drei in der Bundesligatabelle, den man eine Woche später mit einem 0:0-Unentschieden auf der Bielefelder Alm festigte. Flutlichtatmosphäre beim Freitagabendspiel beflügelte im zweiten Heimspiel die rot-weissen Stürmer, die mit Treffern von Willi Lippens (2), Erich Beer und Günter „Nobby" Fürhoff mit 4:0 den 1. FC Kaiserslautern besiegten.

Traumstart

Und das noch nicht einmal an der Hafenstraße. Hier war die Spielfläche immer noch von der Vorsaison ramponiert. Bei widrigsten Witterungsbedingungen war aufgrund der DFB-Planung für die Weltmeisterschaft in Mexiko, die keine Verschiebung des Bundesligaterminplans zuließ, in kürzester Zeit so manche Schlammschlacht im Georg-Melches-Stadion ausgetragen worden. Doch die RWE-Fans hatten laut Willi „Ente“ Lippens „den zeitlich begrenzten Umzug mitgetragen und sind in Massen ins Grugastadion gekommen." Neben dem Heimspielcharakter gab es einen weiteren Vorteil: „Für uns Spieler war es vom Energieaufwand auf dem wesentlich besseren Rasen natürlich auch besser.“

Der kam vor allem Essens Linksaußen entgegen, der zu seiner eigenen Leistung gegen die Mannschaft vom Betzenberg sagt: „Ich habe da übrigens gegen Otto Rehhagel gespielt und er hatte keine Chance und sucht mich bestimmt heute noch.“

Es gab kaum einen RWE-Fan, der sich damals die Tabelle nicht ausgeschnitten hat. Die Bergeborbecker waren nach drei Spieltagen vor Hertha BSC Berlin, Borussia Mönchengladbach und Schalke 04 Spitzenreiter der Fußballbundesliga und als einzige Mannschaft noch ohne Gegentor.

Tabellenspitze in München verteidigt

Mit 5:1 Punkten und 6:0 Toren trat das RWE-Team selbstbewusst zum zweiten Auswärtsspiel beim Meisterschaftsfavoriten Bayern München an. Franz Roth und Gerd Müller brachten die Bayern in der ersten Halbzeit mit 2:0 in Führung. Mit ungeheurem Kampfgeist gelang es der Mannschaft von der Hafenstraße aber den Rückstand wettzumachen. Walter Hohnhausen erzielte in der 57. Minute den Anschlusstreffer. Dann flankte Hermann Erlhoff nur wenige Zeigerumdrehungen später auf Willi Lippens, der erst Johnny Hansen aussteigen ließ, den heranstürzenden Franz Beckenbauer narrte, um dann auch Torhüter Sepp Maier keine Chance zu lassen. Der Kicker überschrieb seinen Spielbericht mit dem Titel: „Der Mut Essens zum Angriff lohnte sich." Und zu Essen Linksaußen hieß es: „Dieser Willi Lippens ist schon ein Tausendsassa! Einen Stürmer dieser Kategorie besaßen die Bayern nicht.“

Das 2:2-Unentschieden feierten die mitgereisten Fans wie einen Sieg. Die „Ente“ fand zugleich Trost für Münchens Fußball-Kaiser: „Es ist keine Schande, gegen den Tabellenführer unentschieden zu spielen.“ Rot-Weiss Essen war nach dem Spieltag weiterhin Tabellenführer vor Hertha BCC Berlin, Borussia Mönchengladbach, dem 1. FC Köln und Borussia Dortmund.

Festung Hafenstraße

Es gab einen Grund für den überraschenden Erfolg. Das Georg-Melches-Stadion und auch die Zwischenstation Grugastadion entwickelten sich zwischen 1968 und 1970 zu scheinbar uneinnehmbaren Festungen. Das stimmgewaltige Publikum hatte als „zwölfter Mann“ einen nicht geringen Anteil daran. So kassierte RWE als einzige Bundesliga-Mannschaft in der Vorsaison 1969/70 keine Heimniederlage und gewann davor auch alle Heimspiele in der Bundesligaaufstiegsrunde 1969. Zum Bundesligaauftakt 1970/71 ging diese Erfolgsserie zunächst weiter. Das folgende Heimspiel gegen Rot-Weiß Oberhausen – nun wieder an der Hafenstraße – ging unentschieden (3:3) aus. Danach gab es gegen den 1. FC Köln einen 2:0-Sieg im Georg-Melches-Stadion. Doch jede Serie geht einmal zu Ende. Am 03.10.1970 gewann Eintracht Braunschweig an der Hafenstraße mit 1:0. Dennoch schloss RWE die Hinrunde und das Jahr 1970 auf dem 8. Tabellenplatz der Bundesliga ab.

Guter Jahresauftakt

Und auch das neue Jahr 1971 begann zunächst mit zwei Heimerfolgen. Arminia Bielefeld verlor am 30. Januar mit 2:1 und auch Bayern München hatte am 13. Februar beim nächsten Heimspiel an der Hafenstraße keine Chance. Die Bayern waren zwar erneut durch ein Tor von Gerd Müller zum 0:1-Pausenstand in Führung gegangen, doch auch diesmal wendete RWE das Spiel. Willi Lippens schoss in der 59. Minute den Ausgleich und Walter Hohnhausen gelang durch einen Doppelschlag in der 65. und 66. Minute der 3:1-Erfolg. „Wir können in Essen einfach nicht gewinnen“, stöhnte Bayern-Trainer Udo Lattek nach der Niederlage. Willi Lippens stand zu diesem Zeitpunkt mit 16 Toren auf dem 2. Platz der Torschützenliste.

Danach folgte ein Absturz, den man sich kaum erklären konnte. Doch darum geht es in der übernächsten Ausgabe der kurzen fuffzehn.

Ein Beitrag unseres ehrenamtlichen Vereinshistorikers Georg Schrepper.