20. Juni 2021

Historie: Schützenswertes Kulturgut seit 1907

Das Schild Essen - Meine Stadt = Rot-Weiss vor der Haupttribüne im Stadion Essen.
Das Schild Essen – Meine Stadt = Rot-Weiss vor der Haupttribüne im Stadion Essen.

Georg Schrepper über den Aufstieg in und aus Ruinen.

Ausgerechnet im 100-jährigen Vereinsjahr 2007 war RWE aus der 2. Bundesliga abgestiegen. Doch es kam in den folgenden Jahren noch schlimmer und die Abstiegsspirale führte 2010 nach der Insolvenz bis in die Niederungen der 5. Liga. Zugleich stand die Frage im Raum, ob es für RWE überhaupt noch eine Zukunft gibt.

Mit einem Insolvenzplanverfahren sollte der Verein schließlich saniert werden. Wie Phönix aus der Asche stieg RWE nach einem Jahr wieder empor. Maßgeblichen Anteil daran hatten Dr. Michael Welling im wirtschaftlichen und Waldemar Wrobel sowie Damian Jamro im sportlichen Bereich. Am 1. Oktober 2010 trat Michael Welling als neuer hauptamtlicher Geschäftsführender Vorsitzender sein Amt an der Hafenstraße an. Mit dem promovierten Wirtschaftsökonomen erzielte RWE schnell eine positive Außenwirkung und bekam ein ganz neues Erscheinungsbild. Es gelang, RWE als Stadtverein zu einer echten Marke zu etablieren.

Schützenswertes Kulturgut seit 1907
Da muss man in Zusammenhang mit einem Fußballverein, der kurz vor dem Abgrund steht, erstmal drauf kommen. Ideengeber Michael Welling hatte in seiner Jugend zwar begeistert Fußball gespielt und auch erfolgreich eine F-Jugendmannschaft trainiert, vom großen Fußball nach eigener Aussage aber eigentlich keine Ahnung. Das war für Insolvenzverwalter Franz Kebekus auch gar nicht wichtig, als er den bekennenden FC St. Pauli Fan im Herbst 2010 anrief und bat, das sinkende Rot-Weiss-Schiff als Kapitän zu übernehmen. Der Marketingexperte sollte RWE als Verein erhalten und wirtschaftlich wieder nach vorne bringen. Und das tat der gebürtige Emsländer auf beeindruckende Weise.

Als erstes machte er Rot-Weiss mit Blick auf das Essener Kulturhauptstadtjahr 2010 zum schützenswerten Kulturgut seit 1907. Später entwickelte Wellings Team mit prominenter Unterstützung hollywoodreife YouTube-Filme zum Saisonauftakt sowie das Motto: „Essen: Meine Stadt = Rot-Weiss.“ Hinter jedem Ortsschild sollte dieses Erkennungszeichen aufgestellt werden. Viele Ideen und Aktionen folgten in seiner Amtszeit, die insgesamt bis Anfang 2018 ging. Nicht alle funktionierten wie geplant. Doch dass die Fans nach dem Insolvenzjahr und in der Folgezeit noch singen konnten, „100 Jahre und noch mehr, wirst du leben RWE", ist vor allem Michael Welling zu verdanken.

Der Zuschauerzuspruch war jedenfalls von Beginn an enorm. Auch auswärts begleiteten zahlreiche RWE-Fans ihre Mannschaft. Rot-Weiss Essen legte daher für die Rückrunde 2010/11 sogar eine Dauerauswärtskarte auf, zu der auch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Heimspielmacher“ gehörte. Am 17. Mai 2011 stimmte die Gläubigerversammlung dem Insolvenzplan zu. Ende 2010 waren es noch 16,5 Millionen Euro Schulden gewesen, nun war man schuldenfrei und zum 1. Juli 2011 wieder allein handlungs- und entscheidungsfähig.

Die Wiedergeburt
Sportlich sollte Trainer Waldemar Wrobel mit einer verstärkten Boygroup der U23die Existenz in der NRW-Liga sichern. Und im baufälligen Georg-Melches-Stadion bewies die Mannschaft von der Hafenstraße tatsächlich Qualitäten als Stehaufmännchen und beendete diesen Teil des Albtraums. Der fünfte Platz war zunächst das ausgegebene Ziel für die Saison 2010/11. Das war jener Tabellenplatz, auf dem die Zweitvertretung von RWE unter Wrobels Regie am Ende der abgelaufenen Saison 2009/10 gestanden hatte. Die Fans standen zu ihrem Verein und sangen am ersten Spieltag lautstark: „Aber eins das bleibt besteh‘n, Rot-Weiss Essen wird nie untergeh‘n.“ 

Der Startschuss zur dann folgenden sportlichen Erfolgsgeschichte fiel an eben jenem 13. August 2010 mit dem Saisonauftakt gegen den VfB Homberg. Das Saisonziel wurde von den Fans schon bald nach oben korrigiert. Das Last-Minute-Fallrückzieher-Tor von Alexander Thamm in der 89. Minute war ein exzellenter Auftakt für die folgende RWE-Mission Wiederaufstieg. Der spektakuläre Treffer schaffte es in die ARD-Sportschau, deren Zuschauer es zum Tor des Monats wählten.

Spitzenreiter, Spitzenreiter
Am 3. Spieltag stand RWE erstmals an der Tabellenspitze und gab diese nur noch dreimal für jeweils einen Spieltag ab. Besonderen Erinnerungswert hatten außerdem die beiden Stadtduelle gegen den ETB. RWE hatte eigentlich sogar zweimal ein Heimspiel, denn beim 1:0 Hinspielsieg war der Uhlenkrug fest in rot-weisser Hand. Kurios das Rückspiel an der Hafenstraße vor12.512 Zuschauer, das bereits vor dem Anpfiff denkwürdig war. Die immense Kulisse bedeutete nämlich einen neuen und bis heute unerreichten NRW-Liga-Rekord. Timo Brauer schoss alle Tore beim 3:0 Derbysieg, die ihm gleichsam auf dem Silbertablett serviert wurden: Drei Mal trat Brauer am Elfmeterpunkt an, traf zweimal rechts und einmal links – Derbysiegen leicht gemacht.

Bereits fünf Spieltage vor Saisonende war der direkte Wiederaufstieg in die Regionalliga perfekt. RWE feierte die Meisterschaft der NRW-Liga 2010/11 mit dem 2:1-Auswärtserfolg in Siegen und nach der Rückkehr noch zu später Stunde an der heimischen Hafenstraße.

Da der Verein wegen des Insolvenzverfahren keine Aufstiegsprämie zahlen durfte, verdienten die Spieler sich diese mit zwei T-Shirt-Aktionen selber. In kurzer Zeit waren die Shirts „Aufgestiegen in Ruinen“ und 
„Aufstiegshelfer 2010/11 – Wir sind stolz auf unsere FANS“ vergriffen. Zur Saisonkrönung gewann RWE auch noch das Finale im Niederrheinpokal und war damit zum ersten Mal seit 2008 wieder für die erste Hauptrunde im DFB-Pokalqualifiziert. Sportlich war der Aufstieg an der Hafenstraße gleichsam in und wirtschaftlich aus Ruinen gelungen.

Ein Stadion für Essen
Auch das neue Stadion wurde in der Aufstiegssaison endlich auf den Weg gebracht. Die NRZ schrieb am 28. Oktober 2010: „Treffer in der Nachspielzeit. Jetzt aber wirklich: Das Stadion an der Hafenstraße kommt. Rat beschließt den Bau für 20.000 Fans mit großer Mehrheit.“

Nach Vollendung der Vorarbeiten begannen am 1. April 2011 die eigentlichen Rohbauarbeiten. Ein gutes Jahr später Jahr folgte dann am 12. August 2012 die feierliche Eröffnung des Stadion Essen, in dem neben RWE auch die Frauenbundesligamannschaft der SG Schönebeck ihre neue Heimat fand. Zunächst als Dreiviertelstadion, denn wie zuvor im Georg-Melches-Stadion, wo 1991 die Westkurve erst gesperrt und 1994 dann abgerissen wurde, fehlte an deren altem Standort zunächst noch die neue „Alte West“-Tribüne, die erst im nachfolgenden Bauschnitt fertiggestellt werden konnte. Seit der Saison 2013/14 spielt Rot-Weiss Essen nach über zwei Jahrzehnten seine Heimspiele endlich wieder vor vier Tribünen, die allerdings noch unverbunden für sich stehen.

Ein Beitrag unseres ehrenamtlichen Vereinshistorikers Georg Schrepper.